6.

Zum besseren Verständnis dieser Geschichte müssen Sie mehr über Neil Morelli wissen. Seit der Emmy-Verleihung kennt ihn jeder. Vorher war er unbekannt. jetzt ist er berühmt — berüchtigt, damals war er nur ein Komiker unter vielen, der auf eine eigene Show hoffte. Er lechzte nach Anerkennung. Wie ihm ging es hunderten hungriger Entertainer in New York, die alle auf den großen Coup warteten. Abgesehen davon war er Mary Janes bester Freund.

Nachdem Neil Morelli den Schauplatz von Mary Janes Demütigung in dem Kirchenkeller verlassen hatte, machte er sich auf den Weg zur Arbeit. Eines Tages wird sie klüger sein und merken, wer sie wirklich liebt, dachte er. Er gestattete es sich nicht, deprimiert zu sein. Mit Elan verließ er den Fahrstuhl im achtundzwanzigsten Stock des Rockefeller Centers und betrat die Anwaltsfirma, in der er als Schreibkraft an einem Computer arbeitete. In dem großen Schreibsaal saßen die Angestellten hinter ihren elektronischen Geräten. Neil begrüßte die Kollegen freundlich. Dana, die Leiterin des Schreibbüros, winkte ihn heran, dabei rutschte ihr wie üblich die Brille über die magere Nase nach unten. Neil haßte Dana. Auch sie wurde von dem Ehrgeiz getrieben, Erfolg beim Theater zu haben. Doch darin unterschied sie sich von Neil, denn sie besaß nicht die geringste Chance, auf der Bühne Karriere zu machen. Oft genug hatte sie vorgesprochen, stets ohne Erfolg. Die Misserfolge hatte sie verbittert.

Sieben Jahre arbeitete Neil bereits in dem Büro. Abends jobbte er als Entertainer in Clubs und Bars, anfangs in recht finsteren, doch nach und nach in besseren. Das erregte Danas Neid. Mit sadistischer Freude wischte sie Neil eins aus oder rügte ihn, sooft es ging.

Diesmal tadelte sie ihn, weil er wieder zu spät kam.

»Ich weiß und bitte um Entschuldigung«, sagte Neil. Alle blickten zu ihm hin, obwohl ihre Finger weiterhin über die Tasten huschten. Neil zog ein angemessen betretenes Gesicht. Keine flotten Sprüche jetzt. Er wußte, wie er ein Publikum in den Bann ziehen mußte. Nun wandte er sich an seine Kollegen vor den Monitoren. »Hallo, Leute! Was ist der Unterschied zwischen einem Geier und einem Anwalt?« Sie warteten gespannt. »Der eine ist ein verlaustes Vieh, das sich von den Unglücklichen dieser Welt ernährt.« Eine Kunstpause. »Der andere ist ein Vogel.«

Alle tobten vor Lachen. Dana nicht. »Das ist das dritte Mal in dieser Woche, daß du zu spät kommst, Neil, und heute ist erst Mittwoch. «

Neil blieb die Ruhe in Person. Er wußte, daß das ein guter Witz war, den sie aber nicht verstand oder nicht verstehen wollte.

»Ich kann dich nicht dauernd vor dem Chef decken«, fuhr sie fort und log damit sträflich. Denn der Chef wußte nur das, was Dana ihm sagte. »Ganz unter uns, Neil, hier bekommst du mehr bezahlt als in deinen Clubs. Hier verdienst du deine Brötchen, Neil.«

Super, dachte er. Diesmal gebe ich es dir. Wochenlang hatte er sich zwingen müssen, nichts von seinen Zukunftsaussichten auszuplaudern. Endlich war seine große Stunde da.

»Für die Clubs arbeite ich auch nicht mehr, Dana.«

»Das ist vernünftig. Soweit ich weiß, hat sich ja auch in letzter Zeit nichts mehr für dich ergeben.«

»Hier werde ich allerdings auch nicht mehr arbeiten.« Alle im Saal hörten auf zu schreiben.

»Wie bitte? Warum denn nicht?«

»Weil ich eine eigene Fernsehshow in L.A. angeboten bekommen habe.«

Die Kollegen, eine zusammengewürfelte Gruppe aus Versagern und Aussteigern, applaudierten, stampften mit den Füßen und gratulierten ihm überschwenglich. Nur Dana saß wie erschlagen da. Neil wartete, bis sich alle beruhigt hatten. Er brauchte die Stimme nicht mehr zu erheben, es war mucksmäuschenstill. »Ich kündige hiermit.« Er nahm seine Tasche und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um, weil er seinen Kollegen zum Abschied noch mit einem Anwaltswitz Freude machen wollte. »Warum hat New York alle Anwälte und New Jersey alle Giftabfälle?« rief er.

Erwartungsvoll sahen ihn alle an. »Warum?« brüllten sie.

»Weil die beiden gewettet haben, und New Jersey hat gewonnen.« Hinter sich hörte Neil noch das schallende Gelächter. Er wandte sich noch einmal Dana zu. Jetzt endlich konnte er ihr all die Sticheleien und Gemeinheiten heimzahlen. »Laß dich nicht stören, Dana. Denk dran: Hier verdienst du deine Brötchen.«

Auf dem Weg zum Fahrstuhl pfiff Neil vergnügt vor sich hin.

Neil schloß seine Wohnung auf, ließ seine Tasche und die Post auf den Küchentisch fallen und nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Er trank nur selten. Doch an diesem Tag gab es etwas zu feiern. Er blätterte die Post durch, nachdem er den ersten tiefen Schluck getrunken hatte. Rechnungen und noch einmal Rechnungen.

Neil hatte den meisten Clubs schon mitgeteilt, daß er nicht mehr auftreten werde. Jetzt, wo er die Erfolgsleiter zu erklimmen begann, krochen sie wie die Kakerlaken aus ihren Löchern und wieselten um ihn herum, hofierten ihn, behaupteten kühn, sie seien es ja gewesen, die ihn entdeckt und gefördert hatten. Jeder glaubte, bei Neil absahnen zu können. Doch Neil ließ sie alle abblitzen. Sie hatten ihn zu oft wie einen Bettler behandelt und ihn gedemütigt.

Neil dachte an Sam Shields. Auch so ein Mistkerl. Neil be­ dauerte an sich die bevorstehende Trennung von Mary Jane und der Truppe. Doch er genoß noch im Nachhinein Triumph, als er ihnen von seinem Erfolg erzählte. Sam, dieser aufgeblasene Bastard, spielte sich auf, als gehöre die ganze Truppe ihm persönlich. Was für eine Gemeinheit, Mary Jane vor ihnen allen so bloßzustellen! Obendrein betrog er sie nach Strich und Faden, auch wenn Mary Jane das nicht wahrhaben wollte. Neil seufzte.

Wie kommt es nur, daß jemand wie Sam an einer Mary Jane hängenbleibt? Schön ist sie nicht, dachte Neil, aber eine treue Freundin und sagenhaft begabt. Eine Frau mit Herz, die einen Mann ohne Herz liebt. Neil hatte es nie verstehen können, warum Sam mit seinem überheblichen Künstlergehabe so gut bei den Frauen ankam. Schwarze Kleidung und Starallüren!

Neil kannte Dutzende vom Typ eines Sam Shields. Typen, die in hochkarätige Privatschulen gegangen waren, aber behaupteten, von der Straße zu kommen und schrieben Stücke über die einfachen Leute, ihre aber waren gespickt mit Wörtern der feinen, gebildeten Gesellschaft. Neil kam von der Straße. Sein Dad war ein unbedeutender Rabbi in New York gewesen. Mit der hochnäsigen »besseren Gesellschaft« konnte Neil nichts anfangen. Er haßte sie. Aus der Ferne beobachtete Neil, wie Sam sich als Bursche aus der harten Gosse aufspielte und die Frauen ihm reihenweise verfielen und die Beine für ihn breitmachten. Man konnte die Achtung vor den Weibern verlieren.

Für einen so kleinen, mageren und häßlichen Kerl hatte Neil bei den Frauen, mit denen er ihm Lauf der Jahre geschlafen hatte, nicht schlecht abgeschnitten. Doch er brachte es nie fertig, sie so brutal zu behandeln, daß sie ihn liebten. Weil er Mary Jane liebte, konnte er sie erst recht nicht hart anfassen.

Kurz darauf schüttelte Neil sein Selbstmitleid ab. Er begann zu packen.

Die schoenen Hyaenen
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